Wissenschaft, Politik und Gesellschaft ? Schlaglichter auf ein spannungsreiches Verhältnis

Publikationsdatum: 15.10.21 09:58    Letzte Aktualisierung: 15.10.21 10:45

Editorial zum OpenTA-Neuerscheinungsdienst (NED) "ÜberdenTAellerrand" September 2021

Ein Beitrag von Christoph Kehl

Die vergangene Bundestagswahl und der vorangehende Wahlkampf haben noch einmal sehr deutlich gemacht, dass im Umgang mit den immanenten Krisen unserer Zeit die Politik immer weniger Gestaltungsspielräume hat und zunehmend von Sachzwängen getrieben wird. Sichtbares Zeichen davon ist der Umstand, dass Fachexpertinnen und -experten in vielen Bereichen die Macht übernommen zu haben scheinen und nicht nur vorgeben, wie die Probleme zu lösen sind, sondern auch, was die Probleme sind. Gleichzeitig wird diese Entwicklung überlagert von dem Bestreben, die Beteiligung der Bevölkerung an politischen Prozessen durch demokratische Innovationen wie Bürgerräte zu stärken. In dieser Ausgabe des NED möchte ich drei Bücher vorstellen, die sich mit dem spannungsreichen Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft beschäftigen: Das erste stammt von dem persönlichen NTA-Mitglied Alexander Bogner, der die "Epistemisierung des Politischen" unter die Lupe nimmt. Beim zweiten handelt es sich um einen Sammelband von Sabine Flick und Alexander Herold, in dem partizipative Forschungsmethoden einer kritischen Bewertung unterzogen werden. In "Power to the People" widmen sich schließlich Georg Diez und Emanuel Heisenberg der Frage, ob und wie sich mit Technologie die Demokratie neu erfinden lässt.

Alexander Bogner ist habilitierter Soziologe, seit 2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter am ITA und sicherlich vielen Leserinnen und Lesern dieses Blogs mit seinen Büchern zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik (u.a. zur Ethisierung von Technikkonflikten) bekannt. Bei seinem neuesten Werk mit dem Titel "Epistemisierung des Politischen" handelt es sich um ein relativ schmales Büchlein, erschienen im Reclam-Verlag, dessen Inhalt aber dennoch von einiger Sprengkraft sein dürfte. Denn Bogner vertritt darin die streitbare These, wie dem Klappentext zu entnehmen ist, dass die starke Fixierung des Politischen auf wissenschaftliche Erkenntnisse die Demokratie stärker zu gefährden droht als es Fake News und Verschwörungstheorien tun. Aber erscheint es in einer Zeit, die postfaktisch genannt wird, nicht geradezu paradox, die "Macht des Wissens" so infrage stellen zu wollen? Dabei geht es Bogner selbstverständlich keineswegs um plumpe Wissenschaftskritik. So hebt er in der Einleitung hervor, dass sich besonnene Debatten "nur auf der Grundlage belastbarer Daten und Fakten" (S. 15) führen lassen. Ein zu starkes Vertrauen der Politik auf die wissenschaftliche Expertise könne jedoch für die Demokratie kontraproduktiv sein, wie Bogner in der Einleitung betont (S. 15), weil dadurch der Streit um "normative Aspekte" und unterschiedliche Ziele, die in einer deliberativen Demokratie das genuin Politisch ausmachen, an Bedeutung zu verlieren drohen.

Nach der Einleitung stellt Bogner in Kapitel 2 mit der Klima- oder der Coronakrise einige exemplarische Politikfragen vor, die zunehmend auf dem Feld der Wissenschaft ausgetragen werden (Inhaltsverzeichnis). Anschließend wendet er sich in den folgenden Kapiteln den demokratiepolitischen Voraussetzungen und Implikationen dieser Entwicklung zu: Er diskutiert Aspekte der liberalen Demokratie, die von der Hoffnung "auf die heilsame Kraft des Wissens" getragen wird (Kapitel 3), beschäftigt sich aber auch mit den Grenzen der epistemischen Demokratie (Kapitel 4) oder dem demokratietheoretischen Wert der Expertenkritik (Kapitel 5), die allerdings im postfaktischen Zeitalter von verschwörungsideologischen Pseudo-Experten ungut auf die Spitze getrieben wird (Kapitel 6). Im Schlusskapitel schließlich bündelt Bogner seine Kritik an einem Gesellschaftszustand, den er als "Epistemokratie" bezeichnet und durch dessen Herrschaft des Wissens "aus dem Blick [gerät], was politische Probleme eigentlich ausmacht und gesellschaftliche Konflikte anheizt: divergierende Werte, Interessen und Weltbilder" (S. 17). Wobei hinzuzufügen wäre, dass es ja gerade ein Merkmal unserer Wissensgesellschaft ist, dass diese Werte, Interessen und Weltbilder zunehmend epistemisch geprägt sind, während umgekehrt die einflussreichen Fachexperten selbstverständlich nicht frei von intrinsischen normativen Leitbildern agieren – was jedoch nur unterstreicht, mit welch komplizierten Verhältnissen wir es hier zu tun haben.

Eine Möglichkeit, die Deutungsmacht akademischer Experten zu brechen oder zumindest zu relativieren, indem auch die Perspektiven von Nicht-Experten einbezogen werden, besteht in der Nutzung partizipativer Forschungsmethoden. Auch in der TA, die sich in ihren Anfängen ja vor allem als vermittelnde Instanz zwischen den Sphären der wissenschaftlichen Expertise auf der einen Seite und der handelnden Politik auf der anderen verstand, gehören partizipative Ansätze (und damit die stärkere Öffnung zur Gesellschaft) längst zum etablierten Methodenkanon. Allerdings besteht auch bei partizipativer Forschung immer noch das prinzipielle Problem, dass sie strukturell eine machtasymmetrische Beziehung zwischen den Forschenden und den Beforschten beinhaltet und damit ihren Anspruch zur Demokratisierung der Erkenntnissuche unter Umständen nicht ganz einzulösen vermag.

Mit diesem Spannungsfeld beschäftigt sich der zweite hier vorzustellende Band mit dem Titel "Zur Kritik der partizipativen Forschung", der von Sabine Flick, Professorin für Geschlecht und Sexualität in der Sozialen Arbeit an der Hochschule Fulda, sowie Alexander Herold, der freiberuflich in der politischen Bildungsarbeit tätig ist, herausgegeben wurde. Der Untertitel streicht heraus, dass die partizipative Forschungspraxis hier dezidiert aus Perspektive der Kritischen Theorie beleuchtet wird. Ziel ist es, "die partizipativen Forschungsansätze einer kritischen Würdigung", gleichzeitig aber auch einer "immanenten Kritik" zu unterziehen, also "beides, die Potenziale wie die Fallstricke, vor dem Hintergrund der Frage nach Gesellschaftskritik zu betrachten" (S. 13). Der Sammelband besteht aus insgesamt 13 Beiträgen, die sich auf vier inhaltliche Abschnitte verteilen (Inhaltsverzeichnis). Im ersten wird danach gefragt, wie die methodologischen Grundsätze partizipativer Forschung mit den herrschaftskritischen Ansprüchen der Kritischen Theorie zusammenpassen. Im zweiten Abschnitt werden partizipative und rekonstruktive Ansätze empirischer Sozialforschung gegeneinander gelegt, während die Beiträge des dritten anhand empirischen Materials Herausforderungen partizipativer Forschungspraxis beleuchten (z.B. das Manövrieren zwischen gesellschaftlichem Wandel, Lernen und der Generierung neuen Wissens). Der abschließende vierte Abschnitt widmet sich der Kritik partizipativer Forschung, wobei die Beiträge u.a. zu zeigen versuchen, dass "die partizipative Forschung immer wieder droht, hinter ihre eigenen Ansprüche zurückzufallen" (S. 14). Vor allem Letzteres ist bestimmt auch für die TA eine interessante Frage, auch wenn sie Partizipation primär in politikberatender und weniger in forschender Absicht fruchtbar zu machen versucht.

Das Buch des Journalisten Georg Diez (seit 2020 Chefredakteur des The New Institute) und des Start-up-Gründers Emanuel Heisenberg knüpft nahtlos beim Thema Partizipation und Empowerment an, wie der Titel "Power to the People" andeutet, auch wenn hier die Blickrichtung eine ganz andere und auf die demokratischen Potenziale digitaler Technologien gerichtet ist. Die beiden Autoren fragen, wie die demokratische Praxis, das demokratische Denken und Handeln durch die neuen technologischen Möglichkeiten gestärkt werden kann. In Zeiten einer zunehmenden Monopolisierung der Internetmacht, der über Twitter verbreiteten Fake News und zunehmender digitaler Überwachung erscheint es nicht unbedingt naheliegend, alte und weitgehend enttäuschte Hoffnungen auf die Demokratisierungspotenziale des Internets aufleben zu lassen. Aber wie die Autoren in der Einleitung deutlich machen, geht es ihnen gerade darum, angstvollen Zukunftsentwürfen optimistisch entgegenzutreten und die Chancen des digitalen Zeitalters (das neue Technologien wie z.B. Blockchain bereithält) für eine dezentralere, transparentere, partizipativere sowie gerechtere Gestaltung demokratischer Prozesse offensiv auszuloten. Konkret möchten sie herausfinden, "ob es einen Weg gibt, Technologie ins Zentrum der Demokratie zu stellen, so dass sie weder der extraktiven Logik gegenwärtigen Kapitalismus gehorcht noch dem chinesischen Modell des staatsgetriebenen und autoritären digitalen Überwachungsapparates " (S. 11f.). Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist die für die TA wenig neue Erkenntnis, dass Technologien von Menschen gemacht werden, was Möglichkeiten für "Gestaltung und Veränderbarkeit" und insofern auch Verbesserung bietet. Ansetzen möchten Diez/Heisenberg somit nicht beim technologisch Machbaren. Stattdessen kündigen sie in der Einleitung an, in ihrem Buch die komplexen Wechselwirkungen zwischen Technik, Politik und Ökonomie als Ganzes in den Blick nehmen zu wollen, wozu sie in sieben Kapiteln u.a. Themen wie Identität, Autonomie, Teilhabe sowie Macht und Empathie beleuchten (Inhaltsverzeichnis).

Für die Septemberausgabe des NED wurden aus 267 automatisch selektierten Buchtiteln aus dem Datenbestand der Deutschen Nationalbibliothek die folgenden 27 Buchttitel ausgewählt:

Alnajjar, Fady (2021), Roboter in der Bildung. Wie Robotik das Lernen im digitalen Zeitalter bereichern kann, München: Hanser. ISBN: 978-3-446-46695-1, http://d-nb.info/1223041700.

Biedermann, Hubert/Posch, Wolfgang/Vorbach, Stefan (Hg.) (2021), Digitalisierung im Kontext von Nachhaltigkeit und Klimawandel, 1. Auflage, Baden-Baden: Nomos. ISBN: 978-3-98542-009-4, http://d-nb.info/1234261057.

Bogner, Alexander (2021), Die Epistemisierung des Politischen. Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet, Ditzingen: Reclam. ISBN: 978-3-15-014083-3, http://d-nb.info/122236705X.

Böttiger, Helmut (2021), Energie der Zukunft. Nuklear, fossil oder erneuerbar?, Petersberg: Michael Imhof Verlag. ISBN: 978-3-7319-1119-7, http://d-nb.info/1230428615.

Diez, Georg/Heisenberg, Emanuel (2020), Power to the people. Wie wir mit Technologie die Demokratie neu erfinden, 1. Auflage, München: Hanser Berlin. ISBN: 978-3-446-26417-5, http://d-nb.info/1196889147.

Ekardt, Felix (2021), Theorie der Nachhaltigkeit. Ethische, rechtliche, politische und transformative Zugänge – am Beispiel von Klimawandel, Ressourcenknappheit und Welthandel, 3. Auflage, zugleich um ein Nachwort ergänzter Nachdruck der 2. Auflage, Baden-Baden: Nomos. ISBN: 978-3-8487-7063-2, http://d-nb.info/1235696286.

Flick, Sabine/Herold, Alexander (Hg.) (2021), Zur Kritik der partizipativen Forschung. Forschungspraxis im Spiegel der Kritischen Theorie, 1. Auflage, Basel: Beltz Juventa. ISBN: 978-3-7799-6300-4, http://d-nb.info/1221077090.

Haas, Rüdiger (Hg.) (2021), Technische Innovationen im Kontext des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels, 1. Auflage, Stuttgart: Steinbeis-Edition. ISBN: 978-3-95663-225-9, http://d-nb.info/1231818255.

Hanusch, Frederic (2021), Planetar denken. Ein Einstieg, Bielefeld: transcript. ISBN: 978-3-8376-5383-0, http://d-nb.info/1221454951.

Heisel, Felix (Hg.) (2021), Urban Mining und kreislaufgerechtes Bauen. Die Stadt als Rohstofflager, Stuttgart: Fraunhofer IRB Verlag. ISBN: 978-3-7388-0563-5, http://d-nb.info/122522229X.

Junginger, Ines (2021), Die Vielfalt von Nachhaltigkeit und das Phänomen der Diskrepanz. Eine vergleichende Analyse von Werten und Praktiken im Rahmen der Grounded Theory, Baden-Baden: Tectum Verlag. ISBN: 978-3-8288-4655-5, http://d-nb.info/1233435140.

Kahle, Hanna N. (2021), Mobilität in Bewegung. Wie soziale Innovationen unsere mobile Zukunft revolutionieren, Offenbach: GABAL. ISBN: 978-3-96739-060-5, http://d-nb.info/1231169893.

Kleeman, Jenny (2021), Roboterland. Wie wir morgen lieben, leben, essen und sterben, 1. Auflage, deutsche Erstausgabe, München: Goldmann. ISBN: 978-3-442-31601-4, http://d-nb.info/1220718300.

Kögel, Andreas (2021), Medizin und Gesellschaft. Eine Einführung in die Medizinsoziologie, 1. Auflage, Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer. ISBN: 978-3-17-037294-8, http://d-nb.info/1222538326.

Kouli, Yaman/Pawlowsky, Peter/Hertwig, Markus (Hg.) (2020), Wissensökonomie und Digitalisierung. Geschichte und Perspektiven, Wiesbaden: Springer VS. ISBN: 978-3-658-22332-8, http://d-nb.info/1173821953.

Maaß, Jennifer (2020), Die Normativität der Sustainable Development Goals in den internen und externen Politiken Europas, [1. Auflage], Hamburg: Verlag Dr. Kova?. ISBN: 978-3-339-11612-3, http://d-nb.info/1203960808.

Popov, Yuri (2021), Digitalisation in the German Mittelstand, Baden-Baden: Tectum Verlag. ISBN: 978-3-8288-4615-9, http://d-nb.info/1227158726.

Roos, Ulrich (Hg.) (2020), Nachhaltigkeit, Postwachstum, Transformation. Eine Rekonstruktion wesentlicher Arenen und Narrative des globalen Nachhaltigkeits- und Transformationsdiskurses, Wiesbaden: Springer VS. ISBN: 978-3-658-29972-9, http://d-nb.info/1206485639.

Roose, Ilka (2020), Flows of Chilean water governance. Social innovations in defiance of mistrust and fragmented institutions, 1st edition, Baden-Baden: Nomos. ISBN: 978-3-8487-6930-8, http://d-nb.info/1214314260.

Schleicher, Katharina (2021), Von alternativen Paradigmen zur umfassenden Transformation. Analyse transformativer Forschungsprojekte anhand des diskursiven Institutionalismus, Wiesbaden, Germany: Springer VS. ISBN: 978-3-658-32600-5, http://d-nb.info/1220993239.

Schulze, Benjamin (2020), Autonomous products and their consumers: what we love and fear when using autonomous vehicles, 1. Auflage, Göttingen: Cuvillier Verlag. ISBN: 978-3-7369-7179-0, http://d-nb.info/1208026623.

Stegemann, Andrea (Hg.) (2020), Die Zukunft der Ernährung. Was wir morgen auf dem Teller haben, Darmstadt: wbg THEISS. ISBN: 978-3-8062-4232-4, http://d-nb.info/1208990659.

Knoepffler, Nikolaus (Hg.) (2021), Hans-Joachim Strauch, Herausforderungen der Wissenschaftsethik, Würzburg.

Thege, Britta (2021), Wege aus sozialer Isolation für ältere Menschen im Kontext neuer Medien. CONNECT-ED - ein Projekt zur Verbesserung gesellschaftlicher Teilhabe, Wiesbaden, Germany: Springer VS. ISBN: 978-3-658-28850-1, http://d-nb.info/1221153692.

van Adel, Friederike den (2021), Integration von Umweltaspekten in den Planungsprozess adaptiver Gebäude, Stuttgart: Fraunhofer Verlag. ISBN: 978-3-8396-1727-4, http://d-nb.info/123611003X.

Weder, Franzisca (Hg.) (2021), The sustainability communication reader. A reflective compendium, Wiesbaden, Germany: Springer VS. ISBN: 978-3-658-31882-6, http://d-nb.info/1216720916.

Wittpahl, Volker (Hg.) (2020), Klima. Politik & Green Deal | Technologie & Digitalisierung | Gesellschaft & Wirtschaft, Berlin: Springer Vieweg. ISBN: 978-3-662-62194-3, http://d-nb.info/121391633X.

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