Die Brille, der hellblaue Pullover und die Konsensreserve. Ein persönlicher Nachruf auf Fritz Gloede

Publikationsdatum: 30.11.15 10:40    Letzte Aktualisierung: 12.07.18 16:19

Woran erinnert man sich, wenn ein Kollege stirbt, mit dem man einige Zeit zusammengearbeitet hat. An Markantes oder an Nebensächliches? Bei mir waren es zuerst Nebensächlichkeiten: die Art, wie Fritz Gloede vornüber gebeugt seine Brille putzte, während Arbeitsbesprechungen ihren Lauf nahmen. An seinen hellblauen Pullover, in dem er mit einem Becher Kaffee in der Hand aus seinem Büro auftauchte, um einen ? Heureka! ? Geistesblitz zu verkünden. Aber erinnerlich ist auch sein scharfer Verstand, mit dem er Diskussionsbeiträge anderer in Argumente, unausgesprochenen Annahmen und Implikationen zerlegte. Dies alles tat Fritz Gloede im Sinn einer Frankfurter soziologischen Schule, die Reflexion und Kritik anhaltend an die erste Stelle rückte.

In Sitzungen überließ er als mein erster Projektleiter am ITAS (ab 2001) eingangs anderen die formale Eröffnung, die ersten Inputs, ihre Strukturierung sowie die Vorschläge für die weitere Besprechung. Während des Putzens der Brille fielen ihm die langen Haare ins Gesicht, die er seit den 1970ern behalten hatte, und es blieb unklar, wo er gerade mit seinen Gedanken unterwegs war.

Schnell wurde er bei Besprechungen jedoch hellwach, wenn das Angesprochene mit Tagespolitik zusammenhing oder ein Junior am ITAS seine Leseerfahrungen (oder noch schlimmer lediglich Gehörtes) in einer These zusammenfasste. Dann unterbrach er das Putzen der Brille, fragte nach und schob seine Argumente auf den Tisch, wobei er meist auf einschlägige Debatten in der Soziologie (J. Habermas, N. Luhmann etc.) oder der Risikosoziologie bzw. der Technikfolgenabschätzung (O. Renn, Th. Saretzki) abstellte. Die manchmal etwas mühsam zu bewältigenden Etappen eines Projektablaufs (z.B. das Verfassen von Zwischenberichten, die Power-Point-Vorträge bei Treffen mit ingenieur- und naturwissenschaftlichen Forschungspartnern) interessierten ihn nicht so sehr. Aber bei Besprechungen von Fragebögen für Surveys oder Forschungsfragen, die aus der Literatur heraus zu begründen waren, konnte er plötzlich und unerwartet den Ruhemodus verlassen. Er war dann nicht nur präsent, sondern traf fast immer den Nagel auf den Kopf. So wurde dann meist schnell klar, dass die Interviewfrage so Quatsch war, die Skalierung für die Antwortkategorien nicht stimmte oder aber eigentlich drei ganz andere Fragen gestellt werden müssten.

Was war seine inhaltliche Marschrichtung? Wozu hat er publiziert? Schlage ich heute in seinen Aufsätzen nach, die ich in meinen ersten Jahren am ITAS mit großer Neugier las, so finde ich Stellen, die bewundert werden müssen ? bewundert wegen ihrer Weitsicht, und bewundert wegen ihrer problemorientierten Perspektive.

Diskurs und Debatte erschienen ihm in einer offenen Gesellschaft als ein gangbarer Weg. So schrieb er 1996 einen Aufsatz mit dem Titel ?Was kommt nach dem Konsens?? (TA-Datenbanknachrichten H. 4, Jg. 5, 1996, S. 38-43). Fritz Gloede ging davon aus, dass bei Technikkonflikten zumindest die ?Verständigung über die geteilte Wahrnehmung des Konfliktgegenstandes? möglich ist. Gerade bei Kontroversen zu ?advanced technologies? gäbe es zwar immer kognitive Unsicherheiten, normativen Dissens und Phasen praktischer Entscheidungsblockade. In Anlehnung an Bernhard Peters verwies er bei dialogischer Konsenssuche aber darauf, dass kognitiv, normativ und praktisch ?vorgängig? zur expertengestützten Auseinandersetzung ?Konsensreserven? vorhanden sein müssten, um Erfolge zu erzielen. Es würde keinesfalls genügen, den umstrittenen Gegenstand erweitert zu reflektieren (also z.B. unter Stakeholder-Beteiligung). Wissenschaftler, Experten, zivilgesellschaftliche Akteure müssten sich auf geteilte Erfahrungen beziehen können und dabei ein nicht zu geringes Maß an Reflexivität und (!) Selbstreflexität aufbringen. Das Einräumen eigener Fehleinschätzungen und eigenen diskursiven Versagens z.B. durch Lagermentalität gehören immer dazu, wenn ein Streitgegenstand ?ergebnisoffen, aber auch nicht grenzenlos? erörtert werden soll, betonte er.

Im deutschen Atomkonflikt waren für ihn diese vorgängigen Konsensreserven für lange Zeit verbraucht. Ob sie durch die lange Vorgeschichte der deutschen Energiewende, die nach Fukushima (2011) ausgerufen wurde, wieder entstanden sind, wäre zumindest fraglich. Auch beim Neuanlauf zur Endlagersuche in Deutschland, die derzeit mit Unterstützung der Endlagerkommission realisiert werden soll, würde er bestimmt vor jedem Statement seinerseits kritisch die Brille putzen. Und seine Auskünfte wären vermutlich nicht optimistisch. Das Wissen, dass mich seine kritische Stimme heute nicht mehr erreichen kann, stimmt mich traurig.

Fritz Gloede hat ITAS 2012 altersbedingt verlassen und ist Anfang Oktober diesen Jahres in Minden (Nordrhein-Westfalen) gestorben.

 

Peter Hocke (seit 2001 zunächst mit F. Gloede im Projekt ?Expertenkommunikation im Konfliktfeld der nuklearen Entsorgung? und später mit ihm im Forschungsbereich ?Wissensgesellschaft und Wissenspolitik? des Instituts für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse im KIT)

Ein weiterer Nachruf wird in TATuP H. 3, Jg. 24, 2015 erscheinen (im Laufe des Dezember 2015).

Siehe auch die News auf der ITAS-Website.

geschrieben von Peter Hocke-Bergler | 20683 Aufrufe, 2 Kommentare itas nachruf
Stephan Lingner
Danke Peter - zwar hatte ich als Externer relativ selten mit Fritz Gloede zu tun, kann aber Einiges aus eigener Anschauung bestätigen. Und seine Vorliebe für die Lederjacke, in der er augenscheinlich wohnte, bleibt unvergessen ... ;-) Schade und traurig, dass er verstorben ist.
Verfasst am 02.12.2015 13:25
Ulrich Riehm
Mittlerweile ist auch der Nachruf von Armin Grunwald in TATuP 3/2015 erschienen: http://www.tatup-journal.de/tatup153_grun15a.php
Verfasst am 21.12.2015 20:42
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