Ein anthropologischer Blick auf phantastische Körper und die Politik des Kreativen

Publikationsdatum: 13.10.16 12:00    Letzte Aktualisierung: 12.07.18 16:19

Editorial zum Online-Neuerscheinungsdienst "ÜBERDENTAELLERRAND" (NED) September 2016

Der neue, aus technischen Gründen etwas verspätet erscheinende Blogbeitrag zu TA-relevanten Neuerscheinungen stellt vier Publikationen vor, die sich mit der Technisierung des Körpers einerseits und Kreativpolitik andererseits befassen ? verbindendes Merkmal dieser sehr unterschiedlich gelagerten Themen ist der Bezug auf anthropologische Grundfragen im Kontext aktueller Entwicklungen.

? Die fortschreitende Technisierung des menschlichen Körpers ist ein nach wie vor hochaktuelles TA-Thema, das jedoch wie kaum ein anderes weit über technologische Kernfragen hinausweist, wie die drei Neuerscheinungen zum Thema verdeutlichen. Eine kritische Bestandsaufnahme zugrundeliegender Zukunftsbilder nimmt der Sammelband "Körperphantasien. Technisierung ? Optimierung ? Transhumanismus"  vor, wobei auch vor tiefer schürfenden Fragen nicht Halt gemacht werden soll: Denn diesseits von Euphorie und Paranoia stelle sich die Frage, so heißt es im Vorwort, "was die Leistungs- und Optimierungsphantasien unseres Zeitalters eigentlich antreibt. Haben wir es mit einer selbstreferentiellen Eigendynamik des Technischen zu tun, die den menschlichen Körper versklavt? Oder sind es umgekehrt körperliche Bedürfnisse, die im technischen Fortschritt ihre Erfüllung finden? Wie kann das Wechselspiel von Körpern und Technologien im 21. Jahrhundert angemessen beschrieben werden?" (S. 7). In dem von Andreas Beinsteiner und Tanja Kohn herausgegebenen Band (basierend auf einer Ringvorlesung der Universität Innsbruck) werden diese Fragen eingehend und aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven beleuchtet. Dabei wird ein Blick auf mediale Körperphantasien und transhumanistische Ideale geworfen, und es werden ? aus TA-Sicht wohl besonders interessant ?, Transformationen des Körperwissens sowie Optimierungsdynamiken im Kontext technowissenschaftlicher Entwicklungen unter die Lupe genommen. /// Inhaltsverzeichnis: http://d-nb.info/1111577331/04

?Eine der Beiträgerinnen des obigen Bandes, die Medien- und Kulturwissenschaftlerin Karin Harrasser, zeichnet auch für die beiden anderen, thematisch verwandten Bücher mitverantwortlich. Da wäre der Sammelband "Parahuman", den sie zusammen mit Susanne Roeßiger herausgegeben hat und der neue Perspektiven auf das Leben mit Technik verspricht. Im Kontext des kürzlich abgeschlossenen BMBF-Projekts "Anthropofakte. Schnittstelle Mensch" entstanden, ist hier die Prothetik-Sammlung des Deutschen Hygiene-Museums Dreh- und Angelpunkt für diverse, vor allem kulturwissenschaftliche Fragestellungen rund um den "Technokörper". Neben Narrativen und Imaginationen technischer Körpermodifikation, deren Analyse ein Schwerpunkt des Bandes bilden, werden auch die soziokulturellen Implikationen einer konkreten Technologie, des Cochlea-Implantats, diskutiert. /// Inhaltsverzeichnis: http://d-nb.info/1099711002/04

?Prothesen stehen schließlich auch im Zentrum der dritten Neuerscheinung, die sich mit der Technisierung des Körpers beschäftigt ? diesmal wird das Phänomen von Karin Harrasser jedoch nicht zukunftsgerichtet, sondern aus spezifisch historischer Perspektive beleuchtet. Gerade dieser Kontrast verspricht jedoch in der Gesamtschau interessante Einsichten: Ausgehend vom amerikanischen Bürgerkrieg unterzieht die Autorin, so der Klappentext, die Prothetik "nicht nur einer sozio- und technikhistorischen Lektüre, sondern auch einer Analyse der damit verbundenen Bildpolitiken, die schwankten zwischen Verbergen [der Versehrung] und Vorzeigen [ihrer mechanischen Qualitäten]". Prothesen stehen damit quasi sinnbildlich für die lädierte Moderne, in der visionäres Fortschrittsdenken allzu oft vom Heroischen ins Abgründige kippte ? eine Ambivalenz, wie sie auch für aktuelle emergierende Technologien absolut typisch ist. Abgerundet wird das Buch durch eine spiegelbildliche Analyse der "Prothesen-Metaphorik", die sich von Freuds 'Prothesengott' bis in die Medientheorie McLuhans fortsetzt. /// Inhaltsverzeichnis: http://d-nb.info/1071663879/04

?Ein ganz anderes Thema, das aber ebenfalls anthropologische Bezüge aufweist, wird von Iris Dzudzek bearbeitet, die am Institut für Humangeographie in Frankfurt am Main lehrt und forscht. Ausgangspunkt ihrer Dissertation mit dem Titel "Kreativpolitik. Über die Machteffekte einer neuen Regierungsform des Städtischen"  ist die Beobachtung, dass Kreativität zum Schlüsselfaktor "der Neuausrichtung urbaner Ökonomie im postindustriellen Zeitalter" (S. 14) geworden ist, der im Fokus zahlreicher Förderpolitiken, -strategien und -programme steht. So wie Kreativität dabei ökonomisiert wird, wird Innovationskraft in eine "vage anthropologische Grundkonstante" verlagert. Diese Neuorientierung stelle Unternehmen wie Stadtverwaltungen vor ganz neue Governance-Herausforderungen, schreibt die Autorin: "Um sie zu [sic] verwerten zu können, muss Kreativität steuerbar und reproduzierbar gemacht werden. Wie aber lässt sich etwas steuern, das man gerade dadurch definiert, dass es spontan, genial und damit nicht steuer- oder reproduzierbar ist. Weil Kreativität selbst nicht technisch oder administrativ hervorgebracht werden kann, helfen sich Unternehmen wie Städte damit, Bedingungen herzustellen, unter denen sich Kreativität besonders gut entfalten kann." (S. 14) Am Beispiel Frankfurts am Main wird den vielfältigen Implikationen dieser Entwicklung nachgegangen, die sich im Spannungsfeld neoliberaler Ideologie und romantischer Genievorstellungen bewegt. Der Bezug zur Technikfolgenabschätzung ist dabei ein ziemlich direkter: Denn Kreativpolitik wird als eine "soziale Technologie" interpretiert, die ganz bestimmten Rationalitäten folgt und Machteffekte wie Verdrängungsprozesse oder Prekarisierung erzeugt, die empirisch herausgearbeitet werden. Die Autorin beschreitet dazu auch theoretisch neue Wege, indem eine performativitäts- und diskurstheoretische Erweiterung des Gouvernementalitätskonzepts vorgenommen wird. Die Dissertation wurde mit dem Preis des Verbands der Geographen an deutschen Hochschulen ausgezeichnet. /// Inhaltsverzeichnis: http://d-nb.info/1079395695/04

Für die Septemberausgabe des NED wurden insgesamt 45 Buchttitel aus dem aktuellen Datenbestand der Deutschen Nationalbibliothek ausgewählt. Darunter fand sich auch ein Titel eines persönlichen Mitglieds des NTA, dessen Autoren-ID (GND) bei der DNB uns bekannt war: ? Pleul, Christian: Das Labor als Lehr-Lern-Umgebung in der Umformtechnik: Entwicklungsstrategie und hochschuldidaktisches Modell. Aachen: Shaker Verlag 2016.

geschrieben von Christoph Kehl | 20166 Aufrufe, 0 Kommentare anthropologie cyborg governance ned neuroenhancement stadtpolitik technisierung transhumanismus
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