Gibt es ein gutes Leben im digitalen?

Publikationsdatum: 29.11.23 09:55    Letzte Aktualisierung: 29.11.23 09:55

Editorial zum openTA-Online-Neuerscheinungsdienst „über den TAellerrand“ (NED) Oktober 2023

Ein Beitrag von Christoph Kehl

Unter den 22 Publikationen, die ich für die Oktoberausgabe des NED ausgewählt habe, sind mir vier Bücher aufgefallen, die sich  aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit der Frage beschäftigen, was die alles durchdringende Digitalisierung und die rasanten Veränderungen, die sie mit sich bringt, für unser gesellschaftliches Zusammenleben bedeuten. Zwei dieser Bücher werde ich etwas eingehender vorstellen.

Mit der Frage, ob es möglich ist, ein gutes Leben mit und um Roboter zu führen, beschäftigt sich ein Sammelband (Social Robotics and the Good Life), der von Janina Loh (seit September 2021 Ethiker:in auf einer Stabsstelle Ethik bei der Stiftung Liebenau in Meckenbeuren) und Wulf Loh (Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen) herausgegeben wurde. Laut den beiden Herausgeber/innen stehen wir am Beginn einer absehbaren Robotisierung der Gesellschaft: Roboter erledigen nicht mehr nur stereotype, „schmutzige“ Aufgaben in abgeschotteten Industriehallen, sondern breiten sich dank zunehmend ausgefeilter sensomotorischer und kognitiver Begabungen in Bereiche aus, die einen engen Umgang mit Menschen erfordern. Beispiele sind kollaborative Industrieroboter, die Altenpflege oder Kindererziehung. Da wir als Menschen über die „faszinierende Fähigkeit [verfügen], uns emotional mit verschiedenen Gegenübern zu verbinden, nicht nur mit anderen Menschen, sondern auch mit Tieren, Pflanzen und manchmal sogar mit Gegenständen“ (Klappentext, aus dem Englischen übersetzt), stellen sich grundlegende normative Fragen, wie wir unser Leben mit Robotern gestalten wollen. Diese Fragen sind zwar keineswegs neu, aber angesichts der rasanten technologischen und gesellschaftlichen Entwicklungen auch noch bei weitem nicht beantwortet.

Der Sammelband umfasst (neben der Einleitung der beiden Herausgeber/innen) neun Beiträge, die sich drei übergeordneten Themen widmen (Inhaltsverzeichnis). Die vier Beiträge im ersten Teil (von Charles Ess, David Gunkel, Anna Strasser, and Eva Weber-Guskar) widmen sich grundlegenden anthropologischen Grundfragen der Mensch-Roboter-Interaktion (HRI) – etwa, was wir unter "sozialen Agenten" und dementsprechend unter "künstlichen sozialen Agenten" verstehen und ob bzw, unter welchen Bedingungen echte Beziehungen mit Robotern möglich sind. Dabei kommt auch die Frage zur Sprache, ob Robotern ein eigener moralischer Status zuzuerkennen ist oder sie als Objekte zu behandeln sind (Beitrag von David J. Gunkel mit dem Titel „Relational Turn“). Die zwei Beiträge im zweiten Teil befassen sich mit der Gestaltung von sozialen Robotern. Es liegt auf der Hand, dass Roboter nur dann als soziale Begleiter erfolgreich zum Einsatz kommen können, wenn sie von den Menschen in ihrem Umfeld auch akzeptiert werden (auch wenn es Kontexte wie die Altenpflege gibt, in denen diese Bedingung nicht unbedingt gelten muss). Wichtig ist dabei keineswegs nur die äußere Gestalt, sondern vor allem auch die angemessene Nachahmung von Emotionen als Bedingung für Vertrauen in das Verhalten eines Roboters. Ob dazu auch negative Emotionen gehören sollten, weil sie einem guten Leben förderlich sind, wird von Jacqueline Bellon and Tom Poljanšek in ihrem Beitrag „You Can Love a Robot, But Should You Fight With it?“ thematisiert. In einem weiteren Beitrag (“Empathic Machines? Ethical Challenges of Affective Computing from a Sustainable Development Perspective”) befassen sich Cordula Brand, Leonie N. Bossart und Thomas Potthast mit der Frage, wie "Affective Computing" tatsächlich für alle Menschen gerecht und bedürfnisorientiert realisiert werden kann und erweitern damit den Blickwinkel über die direkte Interaktion zwischen Mensch und Maschinen hinaus. Im dritten Teil schließlich gehen die Autor/innen der Frage nach, ob fürsorgliche, liebevolle und gar sexuelle Beziehungen zu Robotern möglich sind bzw. sein sollten. Im Fokus steht dabei der Einsatz von Robotern in besonders sensiblen zwischenmenschlichen Bereichen: Sex und Pflege. So nimmt Imke von Maur die Angemessenheit von Pflegerobotern unter die Lupe, während Karen Lancaster noch einen Schritt weitergeht und in ihrem Text („Granny and the Sexbots”) den Einsatz von Sexrobotern in der Altenpflege ethisch beleuchtet. Wer sich für die ethischen Implikationen der sozialen Robotik interessiert, dürfte mit diesem Buch gut beraten sein.

Dass zu einem guten digitalen Leben nur die individuell-persönliche, sondern auch die staatliche Ebene gehört, ist Thema der zweiten Publikation, die im Rahmen dieses Blogbeitrags vorgestellt werden soll. Es handelt sich nicht um ein wissenschaftliches Werk, was sich schon am etwas reißerischen Titel „Schleichender Blackout. Wie wir das digitale Desaster verhindern“ zeigt. Verfasst wurde es von Valentina Kerst und Fedor Ruhose. Die beiden Autor/innen verfügen über hochrangige Erfahrung in der politischen Exekutive: Kerst ist frühere Staatssekretärin in Thüringen und heutige Digitale Strategie-Beraterin für Organisationen und Unternehmen, Ruhose Staatssekretär in Rheinland-Pfalz für Digitalisierungskonzepte. Ihre These: Deutschland digitalisiere sich ohne Sinn und Verstand und in Staat und Verwaltung werde vor allem das seit Jahrzehnten gebräuchliche Verwaltungsmodell „elektrifiziert“ (S. 7). Deutschland drohe ein schleichender Blackout, womit gemeint ist, dass strukturellen Probleme so lange ignoriert bzw. übersehen werden, bis es zu einem „unkontrollierten und unvorhergesehenen Versagen unserer digitalen Anwendungen oder Infrastrukturen [kommt], und zwar unvermittelt und unvorbereitet“ (S. 8).

Dass zwei Politiker vom Fach, die mit der Umsetzung der Digitalisierung befasst sind, den bekanntlich ungenügenden Stand der Digitalisierung in Deutschland derart harsch beurteilen, erscheint ungewöhnlich. Das Buch wird entsprechend auf der Verlagsseite als eine kritische Bestandsaufnahme der Digitalisierung angekündigt, bleibt aber nicht dabei stehen, sondern sucht nach Lösungen für Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft. Das bedeute, so die beiden Autor/innen, „zwischen dem technisch Machbaren und dem gesellschaftlich Erwünschten die richtige Balance“ (S. 12) zu finden. Von den insgesamt sieben Kapiteln sind die ersten drei den in Deutschland herrschenden Problemen in Sachen Digitalisierung sowie ihren Risiken gewidmet (Inhaltsverzeichnis): In Kapitel 1 wird begründet, warum sich Deutschland mit der Digitalisierung so schwer tut und ein schleichender Blackout droht. In Kapitel 2 geht es um digitale Unsouveränität, das heißt die Abhängigkeiten von wenigen mächtigen Tech-Konzernen, und warum eine „Verwaltung auf digitaler Augenhöhe mit den Tech-Unternehmen“ (S. 9) für die Demokratie wichtig ist, während in Kapitel 3 die Verletzlichkeit unserer Kommunikationsinfrastruktur und die Risiken von Cyberangriffen Thema ist. In den restlichen Kapiteln beschreiben Kerst und Ruhose, wie aus ihrer Sicht die Strategien aussehen könnten, mit denen die vielen Herausforderungen zu bewältigen sind und ein digitaler Aufbruch zu bewerkstelligen ist. Ein Schlüsselthema dabei ist, wie in der Einleitung dargelegt wird, gesellschaftliche Resilienz. Darunter verstehen die Autor/innen die „Fähigkeit, Krisen nicht nur zu überstehen, sondern uns als Gesellschaft neuen Begebenheiten und Situationen anzupassen und unsere Abwehrmechanismen so aufzustellen, dass wir Veränderungsprozesse auch aktiv gestalten können“ (S. 8). So wird in Kapitel 5 eine Plattformstrategie für einen resilienten Staat beschrieben und in Kapitel 6 die Programmatik für einen Weg aus dem digitalen Desaster und den digitalen Aufstieg skizziert. Das Buch verspricht einen ziemlich umfassenden Überblick über die Chancen und Herausforderungen der dringend benötigten digitalen Transformation – und zwar aus einer dezidiert politischen Perspektive, was schmerzhaft sein dürfte, da der Finger hauptsächlich in die eigene Wunde zu legen ist.    

Kurz sei noch auf zwei weitere Bücher hingewiesen, die sich mit normativen Aspekten des Lebens im digitalen Zeitalter befassen: 

  • Einen Beitrag von Armin Grunwald enthält der Sammelband „Vom guten (digitalen) Leben“, herausgegeben von Thomas Gremsl, Christian Wessely und Hans-Walter Ruckenbauer (alle von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Graz). Der Band beschäftigt sich aus theologisch-ethischer Perspektive mit dem digitalen Wandel und der Frage, wie der digitale Wandel menschengerecht gestaltet werden und ein „tragfähiges Wertesystem für das digitale Zeitalter“ aussehen könnte (Inhaltsverzeichnis).
  • Vom NTA-Mitglied Michael Friedewald wurde – zusammen mit Michael Kreutzer und Marit Hansen – der Sammelband „Selbstbestimmung, Privatheit und Datenschutz. Gestaltungsoptionen für einen europäischen Weg“ herausgegeben. Darin werden auf über 500 Seiten und in 24 Beiträgen aktuelle Herausforderungen für Privatheit und Datenschutz, die durch die umfassende Digitalisierung (Datenökonomie, algorithmische Entscheidungssysteme etc.) entstehen, breit gefächert beleuchtet. Laut Klappentext wird für eine gemeinwohlorientierte Technikentwicklung und einen werteorientierten europäischen Weg im Datenschutz argumentiert (Inhaltsverzeichnis). Das Buch ist im Open Acess verfügbar (https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-658-33306-5).

Für diese Ausgabe des NED wurden aus 266 automatisch selektierten Buchtiteln aus dem Datenbestand der Deutschen Nationalbibliothek die folgenden 22 ausgewählt:

Adatto, Laurent/Aouinait, Camille/Mongo, Michelle (Hg.) (2023), Innovation ecosystems in the new economic era. Digital revolution and ecological transition, Lausanne: Peter Lang.

Autengruber, Arnold/Kahl, Arno (Hg.) (2023), Mobilitätswende. Verkehre unter dem Einfluss von Nachhaltigkeit und Digitalisierung, 1. Auflage, Heidelberg: C.F. Müller.

Diebel-Fischer, Hermann (Hg.) (2023), Mensch und Maschine im Zeitalter "Künstlicher Intelligenz". Theologisch-ethische Herausforderungen, Münster: Lit.

Fincan, Müslüm (2023), Artificial intelligence and legal issues. A review of AI-based legal impasses in terms of criminal law, Berlin: Duncker & Humblot.

Friedewald, Michael (Hg.) (2022), Selbstbestimmung, Privatheit und Datenschutz. Gestaltungsoptionen für einen europäischen Weg, Wiesbaden, Germany: Springer Vieweg.

Gremsl, Thomas/Ruckenbauer, Hans-Walter/Wessely, Christian (Hg.) (2023), Vom guten (digitalen) Leben. Umbrüche - Einsprüche - Ausblicke, Wien: Tyrolia-Verlag.

Hiekel, Susanne (2023), Tierwohl durch Genom-Editierung? Tierethische Perspektiven auf die Genom-Editierung bei landwirtschaftlichen Nutztieren, Berlin, Germany: J.B. Metzler.

Kavacs, Louise S. (2023), Die Zusammenarbeit von Netzbetreibern im Strombereich vor dem Hintergrund der Digitalisierung und Dezentralisierung der Energiesysteme, 1. Auflage, Baden-Baden: Nomos.

Kerst, Valentina (2023), Schleichender Blackout. Wie wir das digitale Desaster verhindern, Bonn: Dietz.

Kleine-Gunk, Bernd (2023), Homo ex machina. Der Mensch von morgen Chance und Risiken des Transhumanismus, 1. Auflage, Originalausgabe, München: Goldmann.

Knappertsbusch, Inka/Gondlach, Kai (Hg.) (2023), Work and AI 2030. Challenges and strategies for tomorrow's work, Wiesbaden, Germany: Springer.

Köhler-Schute, Christiana (Hg.) (2023), Industrie 4.0 als Hebel für stärkere Resilienz und mehr Nachhaltigkeit, Berlin: KS-Energy-Verlag.

Kopetz, Heinz G. (2022), Mit der Kraft der Sonne gegen die Klima- und Energiekrise, 1. Auflage, Wien: Braumüller.

Koschatzky, Knut/Stahlecker, Thomas (Hg.) (2023), Nachhaltige Transformation und resilienter Strukturwandel in Regionen, Stuttgart: Fraunhofer Verlag.

Loh, Janina/Loh, Wulf (Hg.) (2023), Social robotics and the good life. The normative side of forming emotional bonds with robots, Bielefeld: transcript.

Loske, Reinhard (2023), Ökonomie(n) mit Zukunft. Jenseits der Wachstumsillusion, Rangsdorf: Natur + Text.

Pauli, Hans (2023), Der grüne Weckruf. Wie Nachhaltigkeit und Klimaschutz gelingen, Deutsche Erstausgabe, München: oekom verlag.

Rashid, Hani (Hg.) (2023), Re: action. Urban resilience, sustainable growth, and the vitality of cities and ecosystems in the post-information age, Basel: Birkhäuser.

Spiekermann, Sarah (2023), Value-based engineering. A guide to building ethical technology for humanity, Berlin: De Gruyter.

Voigt, Brigitte (2023), Genomeditierung bei Pflanzen: Rechtsrahmen und Reformoptionen, Wiesbaden, Germany: Springer.

Krupp, Michael (Hg.) (2022), Julia Weber, Dekarbonisierung des Straßengüterverkehrs. Analyse und Bewertung batterieelektrischer Nutzfahrzeuge als Lösungsansatz unter Berücksichtigung betriebswirtschaftlicher und technologischer Aspekte, Düren.

Wehner, Jens/Penzel, Götz Ulrich/Hartmann, Katja/Schlaffer, Rudolf/Janeke, Kristiane (Hg.) (2023), Overkill. Militär, Technik, Kultur im Kalten Krieg, Dresden: Sandstein Verlag.

geschrieben von Christoph Kehl | 6958 Aufrufe, 0 Kommentare digitalisierung ethik ned roboter
Benutzer Beiträge Datum
Ralf Schneider 24 Vor 5 Tage
Leonie Seng 3 Vor 2 Monate
Marius Albiez 28 Vor 3 Monate
Ansgar Skoda 18 Vor 7 Monate
Michael Nentwich 7 Vor 9 Monate
Christoph Kehl 14 Vor 10 Monate
Tanja Sinozic-Martinez 2 Vor 11 Monate
openTA Gastbeitrag 4 Vor 1 Jahr
Tanja Sinozic 13 Vor 2 Jahre
Dirk Hommrich 9 Vor 2 Jahre