Editorial zum OpenTA-Neuerscheinungsdienst (NED) „ÜberdenTAellerrand“ Juni 2018
Was die TA-relevanten Neuerscheinungen in der Deutschen Nationalbiografie anbelangt, ist der Juni aus der Sicht des openTA-Neuerscheinungsredakteurs ein eher unergiebiger Monat gewesen. Gerade einmal 15 Titel sind es geworden, die ich aus einer Gesamtheit von 74 Titeln für den Neuerscheinungsdienst (NED) ausgewählt habe. Dementsprechend fällt auch mein Editorial sehr kurz aus und stellt eine einzige Neuveröffentlichung in den Vordergrund: „Latours Existenzweisen und Luhmanns Funktionssysteme – Ein soziologischer Theorienvergleich“ von Andreas C. Braun. Der Band ist vor allem deswegen interessant, weil er mit Bruno Latour und Niklas Luhmann zwei Autoren in den Fokus rückt, die sonst nur selten in einem Atemzug genannt werden, sei es kontrastiv oder komplementär (Inhaltsverzeichnis). Manche Soziologen gehen Braun zufolge sogar so weit zu behaupten, ein solcher Theorievergleich sei nicht nur zum Scheitern verurteilt, sondern sogar gänzlich überflüssig (vgl. Braun, 7). In der Tat spielen Theorienvergleiche in der heutigen Soziologie eine untergeordnete Rolle. Braun sieht dies wenig überraschend als einen Mangel: Theorienvergleiche sind dann gerechtfertigt, wenn sie produktiv sind, und das heißt für Braun „den Bezug zwischen sozialer Theorie und den beobacht- und erklärbaren sozialen Phänomenen“ (12) verbessern. Zwei Autoren sozusagen miteinander ins Gespräch zu bringen und ihre Werke zueinander ins Verhältnis zu setzen, ist eine anspruchsvolle denkerische Herausforderung; dies umso mehr, wenn einer über den anderen sagt, dass eine konzeptionelle Annäherung „‚gleichzeitig unvermeidlich und nicht gut‘“ sei und dass Luhmanns „Theorie in der Anwendung ‚absolut unbrauchbar‘“ (Latour nach Braun, 13) sei.
Braun zufolge lassen sich anhand eines „meta-“ bzw. gesellschaftstheoretisch komparativen Vorgehens Vereinfachungen in soziologischen Ansätzen aufzeigen und diese dann weiter reflektieren. Niklas Luhmanns Diktum etwa, „dass sich die moderne Gesellschaft nicht auf Umweltgefährdungen einstellen kann, da diese entweder ein Zuviel oder ein Zuwenig an Resonanz in den kommunikativen Systemen erzeugen“ greift aus dem Blickwinkel von Bruno Latour zu kurz bzw. beruhe auf einer falschen, starr dichotomischen Gegenüberstellung zwischen Natur und Kultur. „Dies kombiniert sich mit ihrem vorwiegend analytischen und lediglich Kritik-analysierenden Anspruch, dem man vorhalten kann, für die eigenen Unterscheidungen gesellschaftliche Verantwortlichkeiten a priori von sich zu weisen. Damit hätte die Systemtheorie eine etwaige ‚ökologische Katastrophe‘ mit zu verantworten“, so Braun (162). Aus der Perspektive Luhmanns wiederum liegt umgekehrt gerade im Aufgeben der Natur-Kultur-Unterscheidung die konzeptionelle und terminologische Schwäche Latours. „Aus Sicht der Systemtheorie ist damit ein blinder Fleck gerade auf dem Gegenstandsbereich (Natur-Kultur) zu vermuten, womit das Risiko bestünde, dass AIME [An inquiry into modes of existence, RH] eine rein analytische Debatte bleibt und die Anwendbarkeit auf Sachfragen verliert.“ (163).
Keine Frage, Gesellschaftstheorie und Gesellschaftstheorie-Vergleiche sind nicht gerade en vogue. Das ist der gute Grund, warum Brauns Buch zu begrüßen ist und sich für eine sommerliche Lektüre anbietet, sei es am Baggersee, auf dem begrünten Balkon oder am Strand. Vielleicht sind genau solche Schwellenräume die richtigen für derartige Theorie-Lektüre in der Sommerhitze: weder nimmt man im Alltagsgeschäft Übergangszonen zwischen Natur und Kultur so ohne Weitere wahr noch sind Theoriearbeit und -vergleiche ‚Dinge‘, die häufiger stattfinden als Urlaube. Mir scheint allerdings, dass mit dem Theorievergleich Latour-Luhmann, wie ihn Braun angestellt hat, allenfalls ein erster Schritt gemacht ist, denn in den Sozialwissenschaften hat spätestens in den 1990er Jahren eine umweltsoziologische Debatte begonnen, in denen weitere systemtheoretische Arbeiten von Theoretikern wie Talcott Partsons, Ludwig von Bertalanffy und Umberto Maturana etwa im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Naturverhältnissen, insbesondere deren materiell-stofflichen Dimension sowie deren symbolischen Dimension, diskutiert worden sind. Angesichts des zugespitzt krisenhaften stofflichen Verhältnisses von Gesellschaft und Umwelt bleibt abzuwarten, ob Brauns doch auch wichtiger Theorievergleich weitergeführt wird: nämlich zwischen Latour einerseits sowie soziologischen und biologischen Systemtheorien andererseits.
Im Juni liegen keine Publikationen von NTA-Mitgliedern vor.
1. Bast, Eva-Maria (2017): Genial erfunden. 50 Gegenstände aus unserem Alltag und was dahintersteckt. Überlingen: Bast Medien GmbH, 978-3-946581-26-0, 191 Seiten.
2. Bellebaum, Alfred (2016): Das soziologische System von Ferdinand Tönnies unter besonderer Berücksichtigung seiner soziographischen Untersuchungen. Wien: Profil Verlag, Identischer Nachdruck der 1966 im Anton Hain Verlag, Meisenheim am Glan, erschienenen Erstausgabe, 978-3-89019-712-8, 222 Seiten.
3. Böhm, Diana (Hg.) (2017): … einfach umsteigen. Umsteigeorte zwischen demographischem Wandel und neuer Mobilität. München: Technische Universität München, Fakultät für Architektur, 978-3-941370-78-4, 169 Seiten.
4. Braun, Andreas Christian (2017): Latours Existenzweisen und Luhmanns Funktionssysteme. Ein soziologischer Theorienvergleich. Wiesbaden: Springer VS, 978-3-658-17282-4, 191 Seiten.
5. Christensen, Clayton M. (2017): Besser als der Zufall. „Jobs to be done“ - die Strategie für erfolgreiche Innovation. Kulmbach: Plassen Verlag, 978-3-86470-501-4, 287 Seiten.
6. Engels, Jens Ivo (Hg.) (2017): Nachhaltige Stadtentwicklung. Infrastrukturen, Akteure, Diskurse. Frankfurt: Campus Verlag, 978-3-593-50651-7, 260 Seiten.
7. Kessler, Sebastian; Fangerau, Heiner; Wiesing, Urban (Hg.) (2017): Präventionsentscheidungen. Zur Geschichte und Ethik der Gesundheitsvorsorge im 21. Jahrhundert. Stuttgart-Bad Canstatt: Frommann-Holzboog. zur Geschichte und Ethik der Gesundheitsvorsorge im 21. Jahrhundert, 978-3-7728-2802-7, V, 130 Seiten.
8. Lehmann, Kristina (2017): Die Publizität nachhaltigkeitsbezogener Informationen. Eine empirische Analyse. Ulm, XVIII, 464 Seiten.
9. Lindow, Kai (2017): Wissensbasierte Entwicklung nachhaltiger Produkte. Stuttgart: Fraunhofer Verlag, 978-3-8396-1271-2, 220 Seiten.
10. Mathis, Klaus (2017): Nachhaltige Entwicklung und Generationengerechtigkeit. Eine interdisziplinäre Studie aus rechtlicher, ökonomischer und philosophischer Sicht. Tübingen: Mohr Siebeck, 978-3-16-155166-6, XXXIV, 694 Seiten.
11. ausgeCO2hlt (Hg.) (2017): Wurzeln Im Treibsand. Reflexionen und Werkzeuge von und für die Klimagerechtigkeitsbewegung : inspiriert durch "Organizing cools the planet" von Hilary Moore & Joshua Kahn Russel. Bonn: ausgeCO2hlt, 978-3-00-057265-4, 120 Seiten.
12. Nowotny, Thomas (2016): Das Projekt Sozialdemokratie. Gescheitert? Überholt? Zukunftsweisend? Bozen: StudienVerlag, 978-3-7065-5588-3, 311 Seiten.
13. Schönberger, Harald (Hg.) (2017): Chemikalienmanagement und Umweltschutz in der textilen Kette. Kolloquium zur Nachhaltigen Textilproduktion, 21.09.2017. München: DIV Deutscher Industrieverlag GmbH, 978-3-8356-7363-2, 174, IV Seiten.
14. Schulz, Stefan (2016): Redaktionsschluss. Die Zeit nach der Zeitung. München: Carl Hanser Verlag, 978-3-446-25070-3, 303 Seiten.
15. Wesche, Julius (2017): Entstehung innovativer Wärmenetze. Eine Analyse von sechs Fallbeispielen auf Basis der Multi-Level-Perspektive : Werkstattbericht Nr. 4 im Projekt Transitionsgestaltung für nachhaltige Innovationen (TransNIK). Karlsruhe: Fraunhofer ISI, X, 111 Seiten.
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