Soziale Medien polarisieren ? auch und gerade in der Wissenschaft. Alles Hype, Zeitverschwendung und eine unnötiger Daten-Striptease vor amerikanischen Großkonzernen und Geheimdiensten sagen die einen. Eine hervorragende Chance zur Demokratisierung von Wissen und zur Öffnung verknöcherter Institutionen sagen die anderen. Neben Facebook sorgt dabei besonders der Kurznachrichtendienst Twitter immer wieder für Diskussionen. Mit seiner extrem reduzierten Form und dem starken Setzen auf Netzwerke, stellt er gewissermaßen die Essenz sozialer Medien dar. Was ist im Kontext der TA von diesem Medium zu halten?
Zwischen Hype und Nicht-Nutzung
Viele Internetdienste haben sich längst durchgesetzt und lassen sich aus der Gesellschaft und ihren Teilsystemen kaum noch wegdenken. Google, Facebook und Wikipedia werden von vielen bereits derart selbstverständlich genutzt, dass ein Leben ohne sie kaum noch vorstellbar erscheint. Anders verhält es sich da beim Microblogging, jener auf wenige Zeichen reduzierten Form des Webtagebuchs, das meistens mit Twitter gleichgesetzt wird. Während man dem Dienst nachsagte, maßgeblich den arabischen Frühling befeuert zu haben und Machthaber dieses revolutionäre Potential so sehr fürchten, dass sie Twitter auch schon mal für ihr Land sperren (so jüngst der türkische Premier Erdogan), spiegelt sich diese Aufmerksamkeit weder in Nutzerzahlen noch monetär wieder. Denn Twitter schreibt trotz Börsengang noch immer rote Zahlen und wird zumindest in Deutschland nur von einer Minderheit von 2 % aktiv genutzt (ARD-ZDF-Onlinestudie). Auch unter WissenschaftlerInnen findet der Dienst eher wenig Anklang, wobei ihr Anteil immerhin deutlich über der Gesamtbevölkerung liegt: Rund 10 % der ForscherInnen nutzen Twitter, wie sowohl eine britische (Procter et al. 2010, S. 19) als auch eine deutsche Studie (Pscheida et al. 2014, S. 1) zeigen. Ist Twitter also ein ?(...) Hypemedium, über das mehr gesprochen wird als es tatsächlich genutzt wird?, wie es Pscheida et al. (ebd.) formulieren? In jedem Fall gibt es wohl eine Diskrepanz zwischen gefühlter und tatsächlicher Nutzung. Sollte die TA-Community diesen vermeintlichen Trend also einfach ignorieren?
Bestehende Twitter-Accounts mit TA-Bezug
Tatsächlich tut sie es nicht. Eine Reihe von TA-Institutionen ist auf der Plattform bereits mit eigenem Profil aktiv, darunter beispielsweise:
- Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS), Karlsruher Institut für Technologie, Karlsruhe (@ITAS_KIT)
- Institut für Technikfolgen-Abschätzung, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien (@Technikfolgen)
- Rathenau Instituut, Den Haag (@RathenauNL, @rathenauORG)
- Europäische Akademie, Bad Neuenahr-Ahrweiler (@europacad)
- Science and Technology Options Assessment (STOA), European Parliament, Brüssel (@STOA_EP)
- Öko-Institut, Freiburg/Darmstadt/Berlin (@oekoinstitut)
- Teknologirådet, Oslo (@teknologiradet)
Hinzu kommen diverse persönliche Accounts von Mitarbeiterinnen verschiedenster TA-Einrichtungen. Am Wiener Institut für Technikfolgen-Abschätzung wird eine Liste mit TA-relevanten Twitter-Profilen geführt, ebenso von António Moniz. Während hier gute Pionierarbeit geleistet wurde, bringen diese Listen den Nachteil, dass sie nur von ihren Administratoren ergänzt werden können. Daher habe ich kollaborative Listen angelegt, die von jedermann bearbeitet werden können, wozu ich die TA-Community herzlich einlade. Es gibt eine Liste für Institutionen und eine für TA-Forscherinnen/Praktikerinnen.
Gemessen an Follower[1]-Zahlen sind die bislang twitternde TA-Gemeinde mehr oder weniger erfolgreich: Diese reichen von einigen Dutzend bis hin zu einigen Tausend. Inhaltlich sind die Kurznachrichten so vielfältig wie es die TA eben ist, wobei es meist um Öffentlichkeitsarbeit geht (etwa in Form der Bewerbung eigener Veranstaltungen und Publikationen).
Realistische Erwartungen?
Tatsächlich eignet sich Twitter aufgrund des Zeichenlimits von 140 pro Tweet auch eher für Hinweise zu externen Inhalten als für intensive Debatten. Dies schränkt gleichzeitig auch das erhoffte, beziehungsweise befürchtete, interaktive Potenzial dieses Mediums ein. Die meisten Tweets landen wohl im digitalen Nirwana und resultieren weder in Shitstorms, noch lösen sie konstruktive Debatten aus. Bertold Brecht hatte einst die Vision, das Radio könne zu einem ?Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens? werden, nämlich dann, ?wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen? (Brecht 1967, S. 129). Mit sozialen Medien wie Twitter scheint dies technisch nun mehr oder weniger realisiert, jedoch liegt die Krux eben in der Frage, ob und wie die verschiedenen Akteure miteinander in Beziehung treten.
Erhofft man sich nun durch Twitter ?die? Öffentlichkeit oder einen Großteil der fachlichen Community zu erreichen, muss diese Erwartung enttäuscht werden, schon da beide Gruppen eben nicht in dieser Breite hier zu finden sind. Zudem muss das zu adressierende Netzwerk in jedem Fall zunächst mühsam aufgebaut werden und es kann auch nicht im Sinne der Sender-Empfänger-Logik davon ausgegangen werden, dass jede gesendete Nachricht von allen potenziellen Empfängern gelesen oder gar verstanden wird. Hinzu kommt, dass das spezielle Format mit seinen Eigenheiten gewöhnungsbedürftig ist und auch erst erlernt werden muss (dazu zählt etwa der sinnvolle Einsatz von Hashtags, über die auch Adressaten über den eigenen Follower-Kreis hinaus erreicht werden können; siehe unten). Auch auf der Rezeptionsseite müssen neue Strategien entwickelt werden, um nicht in einer Kakophonie scheinbar unendlicher Tweets unterzugehen. Die ersten Twitter-Erfahrungen sind daher für viele eher frustrierend und es fällt Einsteigern häufig schwer, einen Sinn in dem digitalen Treiben zu erkennen.
Das Zielpublikum finden ? Erfolgsbeispiel Rathenau
Fairerweise muss man allerdings in Erinnerung rufen, dass diese Kritikpunkte in ähnlicher Weise für etablierte Kommunikationskanäle gelten. Die meisten wissenschaftlichen Publikationen finden nur eine sehr kleine Leserschaft und institutionelle Newsletter dürften in der Regel auch nicht gerade massenhafte Interaktion provozieren, um nur zwei Beispiele zu nennen. Hier geht es weniger um die Frage des Mediums als um das generelle Potenzial der Inhalte und ihrer Adressaten. Viele TA-relevante Themen sind eben nur für einen kleinen Kreis von Spezialisten von Interesse, unabhängig von ihrem Kommunikationskanal. Natürlich spielt hier auch das Selbstverständnis von TA-Institutionen eine Rolle, das bekanntlich durchaus unterschiedlich ausfällt.
Das niederländische Rathenau Instituut bemüht sich beispielsweise ausdrücklich um eine Einmischung bzw. gar Initiierung gesellschaftlicher Debatten. Entsprechend wird hier Öffentlichkeitsarbeit groß geschrieben und auch personell und finanziell unterstützt. Somit wundert es auch nicht, dass die Niederländer allein mit ihrem heimatsprachlichen Account über 3.600 Follower erreichen (Stand: September 2014). Wie Marlies Hanifer mir berichtete, konnte man das dahinterliegende kommunikative Potenzial auch schon des Öfteren gewinnbringend einsetzen, wobei man dabei nicht auf die eigenen Follower beschränkt blieb. Im Projekt Patients Know Better sollten beispielsweise Erfahrungen von Patientinnen gesammelt werden, wozu allerdings nur sehr begrenzte finanzielle Mittel bereit standen. Entsprechend konnte man kaum auf teure traditionelle Werbemaßnahmen setzen, um Aufmerksamkeit für das Projekt zu generieren. Stattdessen sendete das Rathenau-Team E-Mails an gut vernetzte Online-Akteure, die wiederum über das Projekt twitterten. Auf diese Weise bekam das Projekt schließlich doch die gewünschte Aufmerksamkeit. Doch auch das interaktive Potenzial konnte von den niederländischen Kolleginnen bereits realisiert werden. So wurde etwa unter dem Hashtag #debatvertrouwen mit verschiedensten Akteuren über Vertrauen in die Wissenschaft debattiert, wobei teilweise auch Beiträge aus Twitter in face-to-face geführte Diskussionsrunden aufgenommen wurden.
Spezialisierte Adhoc-Öffentlichkeiten
Freilich adressieren viele TA-Institutionen in geringerem Maße die breite Öffentlichkeit, womit auch ihr Zielpublikum entsprechend kleiner und derartige Erfolgsgeschichten unwahrscheinlicher werden. Dennoch erscheint Twitter gerade aus TA-Perspektive als interessantes Medium. Eine zentrale Aufgabe und Herausforderung der TA war und ist es, verschiedene Blickwinkel zu einer Technik zu erfassen, wenn nicht sogar zwischen ihnen zu vermitteln. Die kommunikative Offenheit Twitters begünstigt dies: Über Fach- und Systemgrenzen hinweg kann hier ein Austausch zwischen verschiedensten Akteuren erfolgen, ohne dass diese unbedingt durch gegenseitigem Folgen vernetzt sein müssen. Wie oben bereits angedeutet, können etwa Tweets zu einem bestimmten Thema durch spezielle Hashtags gesammelt werden. Bekannte und viel diskutierte Beispiele dazu sind #aufschrei oder #occupy, doch auch TA-relevante Themen wie #fracking, #climatechange, oder #transhumanismus werden schon auf diese Weise diskutiert. Hier bilden sich temporäre Adhoc-Öffentlichkeiten (vgl. Bruns/Burgess 2012) zu einem Thema, ohne dass dabei eine gemeinsame Position oder sonstige Verbindungen vorliegen müssen. Auf diese Weise lassen sich auch parallele Kommunikationskanäle für Konferenzen und ähnliche Veranstaltungen aufbauen. Im TA-Bereich wurde das etwa bei der Prager Pacita-Konferenz 2013 praktiziert.
Fazit: Aufruf zum kritischen Experimentieren
Selbstredend wird bei Twitter jeweils nur eine sehr spezielle Bevölkerungsgruppe erfasst, die keineswegs repräsentativ ist und auch speziellere Zielgruppen sind hier unterschiedlich stark vertreten. Generell finden sich jedoch durchaus zahlreiche potenziell TA-interessierte Twitterer. So wird der Dienst etwa von relativ vielen Journalistinnen, Politikerinnen und NGOs genutzt. Indessen sind TA-Institutionen und ihre Themen in jedem Fall Teil des Twitter-Kosmos, auch wenn sie hier selbst nicht aktiv sind. In diesem Fall wird das Twittern eben von anderen übernommen.
Schließlich empfiehlt sich die Twitter-Nutzung für TA-Institutionen, da der Dienst selbst ein TA-relevanter Gegenstand ist, der entsprechend beobachtet und analysiert werden sollte. Dabei muss man weder der Hype- noch der Dystopie-Rhetorik verfallen, sondern sollte vielmehr eine nüchterne und realistische Einschätzung anstreben. Eine experimentelle und kritische Nutzung ist dafür ein guter Anfang, sie erfordert jedoch eine gewisse Ausdauer.
Literatur
Brecht, B., 1967, Der Rundfunk als Kommunikationsapparat, in: Brecht, B. (Hg.): Gesammelte Werke, Bd.18. Schriften zur Literatur und Kunst, Frankfurt (a.M.): Suhrkamp, 117-134.
Bruns, A. und Burgess, J., 2012, Researching News Discussion on Twitter: New Methodologies, Journalism Studies, 13(5-6), 801?814.
Procter, R., Williams, R. und Stewart, J., 2010, If you build it, will they come? How researchers perceive and use web 2.0, July: Research Information Network <http://www.rin.ac.uk/our-work/communicating-and-disseminating-research/use-and-relevance-web-20-researchers>.
Pscheida, D., Albrecht, S., Herbst, S., Minet, C. und Köhler, T., 2014, Nutzung von Social Media und onlinebasierten Anwendungen in der Wissenschaft. Erste Ergebnisse des Science 2.0-Survey 2013 des Leibniz-Forschungsverbunds ?Science 2.0? <http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:14-qucosa-132962>.
[1] ?Follower? heißen bei Twitter die Abonnenten eines Kanals. Darüber hinaus sind die Nachrichten in der Regel jedoch auch ohne Anmeldung öffentlich einsehbar und können durch sogenannte Re-Tweets schnell über den direkten Kreis der Abonnenten hinaus verbreitet werden.
Benutzer | Beiträge | Datum |
---|---|---|
Michael Nentwich | 8 | Vor 1 Woche |
Ralf Schneider | 24 | Vor 2 Monate |
Leonie Seng | 3 | Vor 4 Monate |
Marius Albiez | 28 | Vor 5 Monate |
Ansgar Skoda | 18 | Vor 9 Monate |
Christoph Kehl | 14 | Vor 1 Jahr |
Tanja Sinozic-Martinez | 2 | Vor 1 Jahr |
openTA Gastbeitrag | 4 | Vor 1 Jahr |
Tanja Sinozic | 13 | Vor 2 Jahre |
Dirk Hommrich | 9 | Vor 2 Jahre |