Zwischen Technikkontroversen und gesellschaftlichen Transformationprozessen: (Ent-)Demokratisierung als Herausforderung für die TA
Ein Beitrag von Thomas Saretzki
„So ist’s geworden!“
Unter dieser Überschrift lädt die Redaktion von openta.net in regelmäßigen Abständen GastherausgeberInnen von TATuP ein, ihre Erfahrungen mit dem THEMA zu reflektieren.
„Technology Assessment“ ist in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre im US-amerikanischen Kongress, also im Rahmen einer parlamentarischen Demokratie „erfunden“ worden. Im Zuge der (keineswegs unaufhaltsamen) Ausbreitung dieser Idee und ihrer Weiterentwicklung in verschiedenen politischen Kontexten ist immer wieder über das Verständnis dieses Konzepts, seine angemessene Institutionalisierung und seine praktische Ausgestaltung diskutiert worden. Zu bestimmten Zeiten rückte dabei auch die Beziehung dieser wissenschaftlich fundierten Untersuchungs- und Beratungspraxis zur Demokratie ins Zentrum des Interesses. Das Thema ist also grundsätzlich keineswegs neu - warum heute (erneut) über das Verhältnis von Demokratie und Technikfolgenschätzung nachdenken?
Die zunächst vielfach implizite Thematisierung dieses Verhältnisses zu Beginn der 2020er Jahre hat – vereinfacht gesagt – damit zu tun, dass es gegenwärtig nicht mehr nur Technologien sind, die sich in einem raschen und bisweilen als „disruptiv“ wahrgenommenen Wandel befinden, sondern auch Gesellschaft und Politik in modernen Demokratien. Politische Akteure wie Analysten verweisen auf zahlreiche Bedrohungen, die nicht nur „von außen“, sondern auch „von innen“ auf demokratisch verfasste politische Systeme zukommen. Die mitunter als „groß“ bezeichneten äußeren Herausforderungen, die sich dabei im Hinblick auf den Auf- und Umbau der gesellschaftlichen und politischen Problembewältigungskapazitäten stellen, sind in der TA schon von Haus aus im Hinblick auf technische Innovationen und deren mögliche Folgen näher behandelt worden. Neben solchen materiellen Funktionsproblemen werden im Licht der vielfach ausgemachten „Krise“ der Demokratie allerdings auch zunehmend Legitimationsprobleme diskutiert. Diese beziehen sich gegenwärtig nicht nur auf einzelne umstrittene technologiepolitische Entscheidungen, sondern darüber hinaus auch auf die institutionellen Strukturen und normativen Prinzipien moderner Demokratien insgesamt. In einem so veränderten gesellschaftlichen und kulturellen Kontext stellt sich die Frage, ob und wie TA in ihrer Praxis und in ihrem Selbstverständnis weiterhin auf die neuerliche Transformation der Demokratie reagieren kann und soll.
In der TA-Community wurde die Diskussion um die Normativität von TA wieder aufgenommen und in einigen ebenso grundlegenden wie aktualisierten Beiträgen auf erhellende Weise weitergeführt. Die Zuschreibungen und Selbstpositionierungen reichen dabei von der klassischen normativen Forderung nach materieller und prozeduraler „Neutralität“ über eine wünschenswerte Positionierung in der Sache bis zur dezidierten Parteinahme für Demokratie als institutionelle Bedingung der Möglichkeit für eine transparente, argumentative und reflektierte Analyse und Beurteilung der Voraussetzungen, Gestaltungsbedingungen und Folgen von (neuen) Technologien. Vor diesem interessanten Hintergrund bin ich als Politikwissenschaftler mit Schwerpunkten in der Policy Analyse und der Demokratieforschung gern der Einladung von Armin Grunwald gefolgt, mich über meine Funktion als Mitglied des wissenschaftlichen Beirats hinaus als Mitherausgeber dieses Themenheftes „Demokratie und Technikfolgenabschätzung“ in der TATuP zu beteiligen.
Was am Ende aus dem Verständnis der Ausgangsprobleme und den Erwartungen an eine Bearbeitung des Themas wird, das hängt im Rahmen einer Fachzeitschrift mit den einschlägigen Regeln für Einwerbung und Begutachtung von Beiträgen (offener Call-for-Papers, peer-review etc.) wesentlich von den eingereichten Manuskripten ab. Damit bestimmen zuvörderst die Autorinnen und Autoren, die sich zu einem solchen Engagement entschließen, und die Gutachterinnen und Gutachter, dass es so geworden ist, wie es sich jetzt dem kritischen Publikum präsentiert. Da in diesem Themenheft ein Philosoph und führender TA-Praktiker sowie ein Politikwissenschaftler als (Gast-)Herausgeber fungieren, haben wir uns entschieden, zu jedem eingereichten Manuskript möglichst aus beiden Bereichen Gutachterinnen bzw. Gutachter zu gewinnen – was zwar nicht ganz einfach war, mit Hilfe der kompetenten und engagierten TATuP-Redaktion aber weitgehend gelungen ist.
Es ist vermutlich nicht überraschend, dass sich die Beiträge, deren Autorinnen und Autoren der Politikwissenschaft zuzurechnen sind, mit politisch umstrittenen Technisierungsprozessen beschäftigen (Digitalisierung, Gentechnik, Energie(wende)technologien), deren Bearbeitung in bestimmten politischen Kontexten und unter den Perspektiven der dort handelnden Akteure im Hinblick auf Theorie und Praxis der Demokratie spezifische Probleme aufwerfen (Gesetzesfolgenabschätzung und Technikeinsatz in der Polizeiarbeit, politische Parteien, Expertenkommissionen). Konzept und Praxis der TA bilden hingegen mehr oder weniger explizit den Referenzpunkt für Beiträge von Autoren, die selbst in der TA tätig sind. Aus dieser Tätigkeit heraus wird einerseits die Idee einer Demokratisierung des technischen Wandels in dem oft der privaten Verfügungsgewalt zugerechneten Bereich wirtschaftlicher Unternehmen verfolgt, andererseits erfährt die Eignung demokratischer Verfahren für die verantwortliche Bewältigung von Langzeitherausforderungen wie dem Klimawandel eine Problematisierung aus technikethischer Perspektive. Allerdings gibt es zu diesen entweder der TA oder der Politikwissenschaft zurechenbaren Beiträgen eine interessante Ausnahme: Die Vermittlungsprobleme der Technikfolgenabschätzung im Hinblick auf die Öffentlichkeit werden von einem interdisziplinären Autorenteam von der RWTH Aachen analysiert, von denen einer (Stefan Böschen) vielfältige Erfahrungen in der TA gesammelt hat, während der andere (Hans-Jörg Sigwart) im klassischen akademischen Feld der Politischen Theorie und Ideengeschichte tätig ist.
Ein Folgethema, das sich nach diesem Themenheft unmittelbar aufdrängt, ergibt sich aus dem Punkt des CfP, der von keinem der eingereichten Manuskripte aufgegriffen wurde: Wie geht die TA-Community im Zuge ihrer eigenen Globalisierung mit den entstehenden Ansätzen einer TA in nicht-demokratischen Staaten um? Neben dieser offenkundigen Leerstelle stellt sich angesichts der thematischen Vielfalt und der unterschiedlichen Blickrichtungen, die in den Beiträgen zu diesem Themenheft eingenommen wurden, aus einer systematisch ausgerichteten Perspektive auch die Frage, ob und wie die Wechselwirkungen im Verhältnis von Technisierungsprozessen, TA und Demokratie konzeptionell zu erfassen sind: Wenn sowohl Technologien als auch TA und Demokratie je für sich einem mehr oder weniger „disruptiven“ Wandel unterliegen, wie wäre dann das Wechselverhältnis dieser drei Transformationsprozesse unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen zu denken und praktisch zu gestalten?
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